Frühgeborenenintensivmedizin – Warum der Kontakt zu Eltern mitunter wichtiger ist als medizinische Technik

babys und kleinkinder Nov 17, 2020

Die Angst der Frühchen-Eltern vor der Intensivstation und allen damit zusammenhängenden Eindrücken ist riesig und gleichzeitig einer der zentralen Punkte, die mich als Neonatologen seit Beginn meiner Tätigkeit beschäftigen.

Zum einen ist es für die Eltern das Unbekannte und Ungewisse - der offene Ausgang, dem sie sich fast hilflos ausgeliefert sehen, wenn ihr Kind an der Grenze der Lebensfähigkeit geboren wird. Zum anderen ist es die Konfrontation mit der ganzen Technik, von der plötzlich das kleine Leben des eigenen Kindes abhängt.

Was sagt man dann den Eltern als behandelnder Arzt, wenn ihr Kind zu früh auf die Welt kommt?

Nun, es ist nicht das technisch Mögliche, sondern das menschlich Begrenzte, was ich zu vermitteln versuche. Jedes Frühgeborene hat, unabhängig von all seinen Begleiterkrankungen, seinen eigenen Charakter, seinen eigenen Willen und seine eigene Kraft, die wir als Team unterstützen und erkennen sollten und insbesondere die Eltern spielen dabei eine zentrale Rolle.

Der Monitor als Instrument zur Überwachung der Vitalparameter (Sauerstoffsättigung, Herzfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur) des Frühgeborenen ist für alle Frühchen-Eltern meist das zentrale Element. So führt der leiseste Alarm, insbesondere in der Anfangsphase, zu unkontrollierbarer Angst. Was wir den Eltern zu vermitteln versuchen ist, dass sie sich nicht auf den Monitor und dessen Werte versteifen, sondern unter Anleitung der Pflege lernen, auf die unterschwelligen Signale ihres Kindes zu achten. Die Pflege ist diesbezüglich geschult, verbringt täglich 8 Stunden am Kind und beobachtet neben der Erledigung der medizinischen Routineaufgaben aufmerksam jegliche Veränderungen. Die Deutung dieser Signale ist nachweislich wichtiger und nachhaltiger, als jegliche technischen Kurzzeitparameter. Wer die Signale seines Kindes „lesen“ kann, kann somit auch besser auf sie eingehen. Ziel ist es, möglichst viele positive und entspannende Signale zu erhalten, wie positive Reaktion auf Berührungen, die elterlichen Stimmen, vertraute Musik oder die intensivste Art der Berührung, das sogenannte „Känguruhen“, bei dem das Kind auf die nackte Brust des Vaters oder der Mutter gelegt wird, um hierdurch die Bindung zwischen Eltern und Kind zu stärken. Gleichzeitig stimuliert dies die Ausreifung der Haut des Frühgeborenen, verbessert die Besiedlung mit „normalen“ Hautbakterien der Eltern, bildet dadurch einen Schutz vor Krankenhauskeimen und stimuliert durch die Bildung von Wachstumsfaktoren in der Haut des Frühgeborenen dessen Wachstum, Gewichtszunahme und Ausreifung von Nervenzellen in der Haut und im Gehirn, was alles in allem zu einer deutlich besseren Entwicklung des Kindes führt.

Schrittweise werden die Eltern deshalb in die aktive Pflege ihrer Kinder mit eingebunden. Mütter werden zudem ermutigt, ihre Milch abzupumpen, sofern dies möglich ist, da die Muttermilch in vielerlei Hinsicht fördernd für die Gesundheit und Entwicklung der Kinder ist, indem sie eine gesunde Darmflora begünstigt und die optimale Aufnahme von Nährstoffen fördert, die zur Verbesserung des Herzkreislaufsystems, der Gehirnentwicklung und des Immunsystems führt.

Mir ist wichtig, den Eltern zu vermitteln, dass diese Art von Teilhabe und Mitsprache auf dem Weg ihres Kindes von Geburt an, Tag für Tag, mitunter wichtiger ist als Zahlen, Chancen auf eine positive oder negative Entwicklung, Risiken oder mögliche Probleme.

Und wenn es einmal so sein sollte, dass dieser Weg stockt, weil es Komplikationen gibt oder das Kind einen Verlauf hat, der mit dem Leben auf Dauer nicht vereinbar ist, so wird diese unendliche Last, die auf den Schultern der Eltern allein zu liegen scheint, immer auch durch das gesamte Behandlungsteam getragen. Das Leben, der Respekt vor dem Leben und auch vor dem Sterben des Kindes und dem Leben der Familie hat die allerhöchste Priorität. Jedes Behandlungsziel in der Intensivmedizin ist umkehrbar und die Therapie wird nicht um ihrer selbst Willen gemacht.

Danke Florian!

Dr.med. Florian Urlichs
Chefarzt der Neonatologie
Christliches Kinderhospital Osnabrück

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